Es gibt etliche Anbieter von Fertigpulvern für Eiscreme, welche damit werben, dass man damit „Eis ganz ohne Chemie“ machen könne oder „natürliches Eis ohne künstliche Zutaten“ produzieren könne.
Das empfinde ich als Augenwischerei, denn im Grunde sind die beiden Werbebotschaften „ohne Chemie“ und „natürliche Zutaten“ pure Luftnummern, die bei einer genauen Überprüfung deutlich weniger beeindruckend sind als sie beim ersten Eindruck wirken.
Ich habe die Leserinnen und Leser meiner Facebook-Seite hier gefragt, was sie unter „Chemie“ verstehen:
„Im Grunde ist ja alles ‚Chemie‘…auch Wasser mit H2O.“
„Farbstoffe und künstliche Aromen.“
„Stabilisatoren würde ich noch ergänzen. Glucose, Dextrose, Inulin, Magermilchpulver und Johannisbrotkernmehl, all das ist für mich KEINE Chemie, und kommt bei mir ins Eis.“
„Ich verstehe darunter synthetische Zutaten.“
„Ich verstehe darunter alle Mittel, die künstlich erzeugt oder verändert werden. Also Magermilchpulver ist schon grenzwertig.“
„Für mich stellt sich eher die Frage nach Clean Label und wie definiere ich diesen Anspruch. Keine E‑Nummern?, die Zutatenliste auf das Wesentliche zu reduzieren?“
„Alles was man nicht selbst herstellen kann.“
Die Ansichten der Verbraucher, was „Chemie“ sei und demnach bei dem Verzicht darauf nicht in Produkten enthalten sein darf, schwankt also offensichtlich.
Was sagt der Gesetzgeber zu natürlichen Zutaten?
Auch der Gesetzgeber ist sich nicht sicher, was natürliche Zutaten sind:
„In der Werbung für Lebensmittel wird zunehmend ein Hinweis auf die „natürliche“ Herkunft von Rohstoffen bzw. die Eigenschaft als „Natur“-Produkt verwendet. Die Flucht in die Natur-Werbung hängt offenbar damit zusammen, dass es sich um einen Bereich des Werberechts für Lebensmittel handelt, der noch nicht strikt gesetzlich geregelt ist, somit gewisse Spielräume offen lässt“
Dr. Markus Gruber im Vortrag „Auslobung „Natur, natürlich“ auf dem 16. Lebensmittelrechtstag für Erzeugnisse aus Getreide, 2009
Gesetzlich geregelt sind bisher nur der Bereich der Aromen und Mineralwasser. Aktuelles Beispiel für eine Werbung mit „100% natürlichen Zutaten“ ist Knorr für Spaghetti Bologne Fix:

Statt Hefeextrakt und Glutamat wird nun Meersalz als Geschmacksverstärker verwendet und auf Aromen wird verzichtet.
Im Eisbereich sind es Pulver-Anbieter wie „Eis Perfecto“ oder „Luciella“, die für ihre Eispulver werben, dass diese ohne „zugesetzte Aromen, Farbstoffe, Geschmacksverstärker oder Konservierungsstoffe“ (Luciella) auskommen oder „nur natürlich Zutaten keine Chemie“ [sic] (Eis Perfecto) enthalten.
Ist doch schön, werden einige sagen, wo ist das Problem?
Das Problem mit Eis-Pulvern
Ich habe mit diesen Bezeichnungen zwei Probleme.
Erstens suggeriert diese ausdrückliche Erwähnung, dass diese Zusatzstoffe in anderen Produkten eben doch enthalten seien. Das ist wie mit „veganem Mineralwasser“. Natürlich ist auch jedes andere Mineralwasser vegan, auch wenn es nicht ausdrücklich so bezeichnet wird. Problematisch ist bei manchen Flaschen nur der Kleber für das Etikett. Dieser verwendet manchmal Kasein als tierisches Klebeeiweiß. Wird dieser jedoch durch eine synthetische Variante ersetzt, ist das Ettiket nicht mehr biologisch abbaubar. Wird an einer Stelle etwas verbessert, kann es also zu Problemen an anderer Stelle kommen.
Im Bereich der Eispulver wage ich angesichts der „Clean Label“-Trends zu behaupten, dass es deutlich schwieriger ist, Eispulver zu finden, welche mit (deklarierungspflichtigen) Farbstoffen und künstlichen Aromen arbeiten statt ohne. Abgesehen vom berüchtigten „Eiszauber“ von Diamant vielleicht, die mit Farbstoff, Emulgatoren, Aromen und Pflanzenfett fast alles drinhaben, was man drin haben kann, um als „chemisch“ zu gelten.
Das zweite Problem ist ein Wahrnehmungsproblem:
Ich denke, dass die meisten Leute „Chemie“ gleichsetzen mit „stark verarbeitete Lebensmittel“. Zum Beispiel ist Trockenglukose eine Zutat, die sehr stark verarbeitet ist, bevor sie ins Eis kommt, auf jeden Fall deutlich stärker verarbeitet als Haushaltszucker, geschweige denn Honig oder Ahornsirup.
Die Anbieter diverser Eis-Pulver rechnen jedoch mit diesem allgemeinen Missverständnis und werben deshalb mit „ohne Chemie“, obwohl jedoch haufenweise „stark verarbeitete Zutaten“ enthalten sind. Das ist rechtlich einwandfrei, stößt aber – zumindest mir – sauer auf.
Eispulver-Zutaten aufgeschlüsselt
Schauen wir uns einige problematische Zutaten dieser Eispulver an:
Trockenglukose oder Glukosepulver wird unter Verwendung von Stärke durch einen komplizierten chemischen Prozess erzeugt, der mit „Natur“ kaum noch etwas zu tun hat. Die Stärke wiederum wird oft aus Mais oder Soja extrahiert, die beide jedoch oft gentechnisch verändert sein können, wenn keine Bio-Glukose gekauft wird.
Baobab-Pulver als Bindemittel in Eispulvern mag rechtlich als „natürlich“ gelten, hat jedoch durch den langen Transportweg aus Afrika eine sehr ungünstige Klimabilanz und der Raubbau und die erhöhte Nachfrage in Europa lässt auch die Preise in Afrika steigen, sodaß die dortige Bevölkerung sich die Baobab-Früchte weniger leisten kann.
Süßmolken-Pulver ist eigentlich ein Abfallprodukt bei der Käseherstellung. Um den Hartkäse zu erhalten, wird aus Milch mit einem Enzym (tierisches oder mikrobielles Lab) die Käsemasse von der Süßmolke getrennt. Mikrobielles Lab wird im Labor hergestellt und kann gentechnisch mit Rindergenen bearbeitet werden, damit es weniger bitter schmeckt. Das ist ebenfalls nicht deklarierungspflichtig.
Magermilchpulver wird gewonnen, indem Magermilch das gesamte Wasser entzogen wird, wodurch jedoch auch Vitamine verloren gehen.
Inulin (z. B. auch in Yacon-Wurzel) beeinflusst die Darmflora und kann Blähungen oder Durchfall auslösen, vor allem bei Menschen mit Fructoseintoleranz oder dem Reizdarmsyndrom.
Wer also Eispulver in der Hoffnung verwendet, da sei kaum „Industrie“ drin, wird auf jeden Fall enttäuscht. Viele dieser Pulver-Zutaten haben viel aufwändigere Extrahierungsverfahren hinter sich als es bei früher selbst herstellbaren Zutaten wie Eier, Milch oder Honig der Fall ist. Durch die komplexen Herstellungsprozesse steigt auch das Risiko, dass nicht deklarierungspflichtige Trennungsmittel zum Einsatz kommen, die dann doch weder „natürlich“ noch „ohne Chemie“ sind.
Schauen wir uns die obigen üblichen Beispiel-Zutaten von Eispulvern an, wird klar, dass das nur noch wenig mit natürlicher Eisherstellung zu tun hat, bei der vor 100 Jahren teilweise NUR Eier, Zucker, Milch und Vanille verwendet wurden. Anderes Beispiel: Auch dieses Schokoladeneis enthält nur vier Zutaten.
Ich sage nicht, dass die ganzen Pulver unnötig sind, schließlich habe ich genug Rezepte auf der Seite, welche einige davon ebenfalls verwenden.
Wer aber groß damit wirbt, dass alles „natürlich“ und „ohne Chemie“ sei und dann Zutaten im Eispulver hat, welche oft (nicht immer) mit Hilfe von Gentechnik hergestellt werden, sollte vielleicht darauf genauer eingehen oder auf solche Zutaten verzichten.
Ein toller Beitrag, danke.
Diese Seite begeistert mich schon seit geraumer Zeit, was zur Folge hat, dass mein alter Bosch-Eisbereiter durch eine Eismaschine ersetzt worden ist.
Ich probiere gerne die Rezepte mit den (chemisch) aufbereiteten Zutaten aus. Es sieht ja auch so aus, dass eine ausgewogene Eisbilanz anders gar nicht zu erreichen ist, oder? Trotzdem bin grundsätzlich ein Freund der natürlichen Zutaten und finde die 100jährigen Klassikerrezepte sehr gut. Obwohl diese jenseits der Eisbilanzierung stehen.
Die Bearbeitung von Eigelb ist halt aufwendig. Hier möchte ich mal Versuche mit Trockenei machen. Aber da ist wahrscheinlich schon wieder Chemie im Spiel.
Viele Grüße Volker
Super Beitrag!
Was lernen wir daraus? Lieber traditionell mit (wenigen) natürlichen Zutaten Eis selber herstellen ;).